Sonntag, 10. Juni 2018

Abschiede


Als ich das erste Mal mit dem Tod in Berührung kam, war ich um die 10 Jahre alt, ich kann mich nicht mehr wirklich erinnern. Meine Urgroßmutter war gestorben und wir waren auf ihrer Beerdigung. Es war für mich etwas befremdlich und ich kann mich an nicht mehr viel erinnern. Nur eins weiß ich noch ganz genau, wie sie den Sarg in die Erde herunterließen und ich meinen Vater fragte: „Was passiert eigentlich, wenn man da im Boden ist?
„Mit der Zeit verwittert das Holz vom Sarg und irgendwann ist man Kompost.“ Mein einziger Gedanke nach dieser Antwort: „Ich will nicht, dass mich die Würmer fressen.“ Seitdem weiß ich, ich will kein Grab, ich will keinen Sarg, ich will verbrannt werden und die Asche können sie dann meinetwegen im Sondermüll entsorgen. Um an Menschen zu denken, die nicht mehr da ist, brauch ich keine kommerziell ausgerichtete Toten-Tagesstätte. Wer an mich denken möchte, wenn i nimmer da bin, darf gerne eine Kerze anzünden und ich weiß, wo ich kurz vorbeischauen werde als „Lichtgestalt“.

Die Geschichte meiner Freundin, die in sehr jungen Jahren gestorben ist, kennt ihr ja schon. Aber rückblickend betrachtet, war sie nicht die Erste, die sich verabschiedet hat. Damals dachte ich noch, ich hätte mir das eingebildet, aber es muss tatsächlich stattgefunden haben, nach dem Tod meiner Urgroßmutter. Einige Tage nach der Beerdigung hätte ich schwören können, sie stand in unserem Kinderzimmer neben dem Stockbett und hat noch einmal nach uns gesehen bevor sie endgültig ging
Einige oder besser viele Jahre später, hatte ich ein ähnliches Erlebnis mit meinem Opa. Von ihm hatte ich aber „nur“ geträumt, er war auch nur ganz kurz da, hatte keine Nachricht, nur kurz gewinkt und war dann weg. Zu Lebzeitenende hat er mich immer Hexe geschimpft, weiß bis heute nicht warum. Aber er war nicht wirklich böse, weiß nicht was das war, senil, debil oder dement war er jedenfalls nicht. Er hatte einen gnädigen Tod. Am Tag vorher war er noch auf dem Trimm-dich-Rad und am Frühstückstisch tags darauf, fiel er – noch mit der Zigarette im Mund – einfach vom Stuhl und war nicht mehr zu retten. Meine Oma war zu der Zeit gerade außer Haus und hat ihn gefunden. Er musste nicht leiden, das war ein Trost auch für meine Mutter.

Vergangenes Jahr starb meine Oma, von ihr habe ich wirklich alles, die Mutter meines Vaters. Nicht nur die blonden Haare, sondern auch das freche Mundwerk sind ihr geschuldet. Sie hat mich immer unterstützt und mir zugehört. War sehr gern bei ihr, sie verstand mich und wir hatten viel Spaß zusammen. Ich war die erste die merkte, dass etwas bei ihr nicht stimmt. Dadurch dass sie weiter weg wohnte, sah ich sie nicht so häufig und erkannte schneller, dass die Altersdemenz Einzug hielt. Meine Hinweise wurden vom Rest der Familie gekonnt ignoriert, bis es zu spät war. Jeder der in so einer Situation mal war, weiß was das für ein Theater ist bzgl. Vollmacht/Betreuer etc. Achtet auf Eure Liebsten und handelt umsichtig im Alter.

Meine Oma ist die Person in meiner Familie, die für mich Familie ist und als es ihr immer schlechter ging, hat es mir jedes Mal das Herz zerrissen, wenn ich sie besucht habe. Zum Schluss konnte ich es einfach nicht mehr. Als sie dann in eine geschlossene betreute Wohneinrichtung kam, war ich einerseits erleichtert, da ich wusste sie ist jetzt nicht mehr allein und hat Leute um sich rum, die sich rund um die Uhr kümmern können. Auf der anderen Seite, tat es mir unendlich leid, da sie nicht mehr selbstständig war und ihr das doch immer sehr wichtig war, ebenso wie mir. Ich besuchte sie Anfang des Vorjahres in diesem Wohnheim. Als ich dort hin kam war es sehr familiär, beim Einlass musste ich mich aber zuvor noch anmelden, mit Namen und „Beziehungsstatus“. Dann führten Sie mich zu ihr. Sie saß mit einigen anderen „Insassen“ im Fernsehzimmer – ein trauriges Bild, denn das hatte irgendwie nichts Heimeliges. Erleichterung machte sich in mir breit, sie erkannte mich sofort und wollte mir freudestrahlend alles zeigen, vor allem ihr Zimmer.
Wir gingen eine Etage höher und ich betrat ihr Zimmer. Klinischer PVC Boden, ein Krankenhausbett mit dem passenden Tischwagen, eine kleine Couch und eine Kommode. Sie hatte ihr eigenes kleines Bad, einen Kleiderschrank und genau drei Bilder hingen an den Wänden verteilt, die ich noch von ihrer Wohnung kannte. Auf der Kommode stand die kleine Krippe, die der Opa einst gebaut hatte, die kannte ich auch noch aus Kindertagen, sie war immer da an Weihnachten und gehörte zur Familie. Aber der Rest des Zimmers war einfach nur kalt und hatte nichts, worin ich nur ansatzweise etwas zum Wohlfühlen hätte finden können. Als ich mich weiter umsah, erschrak ich etwas als ich die Fotos der Familie sah. Von allen gab es ein Foto und am Rahmen unten stand der Name und der „Beziehungsstatus“ – auch bei meinem. Ich schluckte. Wir setzten uns auf die Couch und unterhielten uns über dies und das. Man merkte ihr kindliches Gemüt, dass für dieses Gesundheitsbild sehr typisch ist und wir lachten über alte Geschichten.
Auf einmal wurde sie ernst und sah mich an. Sie war ganz klar und sagte: „Ich will hier nicht bleiben, es gefällt mir hier nicht, nimmst du mich bitte wieder mit?“ Mir stiegen die Tränen in die Augen, versuchte mich zusammen zu reißen und suchte nach Worten. „Du bist jetzt hier zuhause, ich kann dich leider nicht mitnehmen. Aber wir dürfen bestimmt mal zusammen spazieren gehen.“ So schnell wie der klare Moment da war, war er auch schon wieder weg und sie wollte mir unbedingt ihr Badezimmer zeigen. Dann war es Zeit für Kaffee und Kuchen in dieser „Einrichtung“ und ich nahm die Gelegenheit wahr, mich zu verabschieden, umarmte sie –das wusste ich – ein letztes Mal. Sie fragte mich noch, ob ich bald mal wiederkäme und beim Gehen sagten mir die Pflegekräfte, dass sie sich morgen nicht mehr daran erinnern wird, dass ich überhaupt da war. Als ich im Auto saß, bekam ich einen Nervenzusammenbruch, heulte und schrie mir die Seele aus dem Leib. Ich konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen und wenn sie wüsste, was mit ihr passiert…

Einige Monate später erhielt ich einen Anruf meines Vaters, Oma liegt im Krankenhaus und wenn ich sie nochmal sehen will – „Ihr Puls ist sehr niedrig, sie wissen nicht wie lang es noch dauert.“ Zunächst sagte ich zu, mich zusammen mit meiner Schwester am nächsten Tag auf den Weg zu machen. Aber ich schlief in der Nacht sehr schlecht und erinnerte mich an unser letztes Treffen. Sie würde nicht wollen, dass ich sie so sehe und wir hatten uns ja bereits voneinander verabschiedet, also fuhr ich nicht. Zwei Tage später kam die Nachricht ihres Todes. Es traf mich nicht so, wie ich es eigentlich erwartet hätte. Klar, ich hatte Zeit mich darauf vorzubereiten, aber warum zum Teufel war ich so gut vorbereitet auf diese Nachricht. Sie war weg, nicht mehr in dieser Welt, ich konnte sie nicht mehr in den Arm nehmen, aber ich erinnerte mich an ihren Duft und ihre leichte quakende Stimme als wäre es gestern gewesen, wenn sie beim Malefiz-Spielen sagte: „Rache ist Blutwurst“ oder „Prinzessin Zizibe“. Vor der Beerdigung hatte ich richtig Bammel, da ich nicht wusste, wie es mir dann gehen würde, aber mein Liebster ließ mich nicht im Stich und begleitete mich. Mir ging es nicht darum, ob ich es nervlich ertragen würde, sondern ob ich es gesundheitlich schaffe, nach dieser Stresssituation noch gut Autofahren zu können und ob ich mich zusammenreißen kann, nicht den scheinheiligen Menschen drum herum zu sagen, was ich von ihnen und ihrem falschen Getue halte. Bei der Beerdigung selbst, hatte ich jedoch feststellen müssen, dass die Pastorin oder wie immer sich die Dame schimpfte, meine volle Verachtung verdient hat. Sie ließ es sich nicht nehmen, vor der großen teils streng katholischen Gemeinde, raus zu posaunen, dass Oma im Sterbebett dem Glauben abgeschworen hatte. Sehr viele Menschen waren gekommen, denn sie war durch ihre jahrzehntelange Tätigkeit als Hausmeisterehefrau der örtlichen Grundschule sehr bekannt, die auf diese Nachricht mit einem Raunen reagierten. Es hatte mich ebenfalls sehr überrascht und im nächsten Moment mit Stolz erfüllt. Meine Oma ist meine Familie und „wo immer du bist, ich denk an dich“.

Ein paar Nächte danach besuchte sie mich in meinen Träumen und nahm mir alle Sorgen. Ihr geht es gut, das solle ich allen ausrichten. Sie hat ihren Frieden gefunden, ist erleichtert und frei. Seitdem habe ich nicht mehr von ihr geträumt, aber ich habe ein Foto von ihr aufgehängt. Sie strahlt mich jedes Mal an, wenn ich in meine Küche gehe und ich höre ihre Stimme in meinem Kopf, ob aus der Erinnerung oder als Antwort auf einen Gedanken, der mich umtreibt. In der physischen Welt haben wir uns verabschiedet, in der Geistigen wird sie immer bei mir sein.

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