… für den, der sie verträgt sicherlich. Die Menschen, die
damit jedoch nicht umgehen können, wollen sie auch gar nicht hören. Ich bin
immer so ein bisschen hin und her gerissen und sag auch oft dazu „wenn du sie
vertragen kannst“. Da gibt’s auch so einen Spruch „Die Wahrheit kann auch ein
Dorn im Auge des Betrachters sein“ oder so ähnlich. Das kommt wohl unterm
Strich alles auf das Gleiche raus – Wahrheit kann weh tun.
Am schlimmsten aber finde ich die Unwahrheiten, die einem
aufgetischt werden, weil man zu feig ist, die Wahrheit zu sagen. Aber warum ist
das so? Ich bin der Meinung, Wahrheit ist auch ein Zeichen des Respekts, denn
ich trau dem Anderen zu, dass er damit umgehen kann. Das gehört für mich zum
Erwachsensein dazu. Da ich sehr oft die Wahrheit sage, kann ich aus Erfahrung
berichten, Alter hat nichts mit Reife zu tun oder damit mit Dingen umgehen zu
können, die einem gerade nicht gefallen. Die Wahrheit, sollte man schon von
klein auf lernen, bringt dich oftmals vielleicht nicht weiter oder gar in eine ungünstige
Situation, aber sie ist ein Zeichen von Integrität.
Es gibt aber auch Dinge, die will man eigentlich gar nicht
wissen und wenn man sie dann doch erfährt, wünschte man sich die Zeit
zurückdrehen zu können. Vieles kann man wieder vergessen, aber manches brennt
sich ein und von Segen ist da keine Spur zu erkennen. Die Wahrheit ist, die
Welt ist hart und manchmal nicht fair. Da hilft einem dann nur der Glauben an
Destiny und dass alles einen höheren Sinn hat. So ging es mir auch vor etlichen
Jahren, als ich meine Diagnose Multiple Sklerose erhielt. Ich konnte selber
anfangs schon nicht mit dieser Wahrheit umgehen und dann forderte sich diese
Wahrheit jemand ein, von der ich wusste, dass sie sie missbrauchte und genau so
kam es.
Als ich die Diagnose bekam war ich relativ gefasst. Noch
im Ärztezimmer drückten sie mir ein paar Broschüren in die Hand, damit ich mich
in die Thematik einlesen konnte und ging zurück auf mein Zimmer im Krankenhaus.
Ich weiß noch, dass ich mich bedankte, nun endlich zu wissen was mit mir los
ist. Wenn ich heut so drüber nachdenke, kann ich nicht mal mehr sagen, woran
ich dabei dachte – es war ein großes Nichts in meinem Kopf. Eine völlige
gedankliche Ohnmacht. Schnell beschloss ich für mich, das würde erstmal niemand
erfahren, außer mein Freund von damals. Meine Familie wusste ja noch nicht
einmal, dass ich im Krankenhaus war. Mein Arbeitgeber wusste zwangsweise davon
und meine engste Freundin, das war es dann aber auch. Ich wollte nicht gesehen
werden.
Nach dem Krankenhausaufenthalt brauchte ich noch weitere
sechs Monate eh ich begriff, was da nun gerade mit mir passiert. Ich war naiv
genug zu denken, dass es mit einer sporadischen Sehnerv-Entzündung und der
Behandlung mit Cortison schon gewesen wäre. Wie sehr ich mich da doch geirrt
hatte, aber das ist eine andere Geschichte.
Selbst meinen Eltern sagte ich in all der Zeit nichts und
die waren nun wirklich die Ersten, die eine Art Anspruch auf die Wahrheit
gehabt hätten. Aber ich wollte sie verschonen, da ich mir vor allem bei meiner
Mutter Gedanken machte, ob sie die Wahrheit vertragen könnte. Und zum anderen
wollte ich mich verschonen, weil meine Mutter auch dazu neigte, sich in Etwas
hinein zu steigern und ich hätte dann gar keine Ruhe mehr. Ich wurde ruhiger,
wie ich schon berichtete und ahnte ja gar nicht wie viel Aufmerksamkeit Das bei
den Leuten, die mich öfter zu sehen bekommen, wecken würde. Auf Nachfragen
reagierte ich obligatorisch mit „Passt schon“.
Ich war ja dann mittlerweile mit meinem damaligen Freund
verlobt und seine Familie wurde ein wichtiger Teil der Zweisamkeit. Er hatte
ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Schwester, die beiden waren beste Freunde.
Dennoch bat ich ihn, seiner Familie nichts von meiner Krankheit zu sagen, da
ich nicht wollte, anders angesehen zu werden und vor allem musste ich erstmal
selbst damit klarkommen. Bei der Eingewöhnung wollte ich keine schlauen Sprüche
hören oder bedauernswerte Blicke sehen.
Die Situation mit meiner Schwägerin wurde jedoch immer
angespannter, sie fragte mittlerweile immer häufiger nach meinem Befinden.
Irgendwas hat sie wie einen Spürhund auf die Fährte gelockt und sie ist der
Typ, wenn sie etwas wissen will, findet sie es heraus, ob der andere will oder
nicht. Auch ihrem Beruf geschuldet, sie ist Frisörmeisterin, konnte man ihr
allen möglichen Tratsch oder Dramen um irgendwelche Menschen erfahren. Selbst
wenn man nicht danach frägt. Diese Eigenschaft mochte ich überhaupt nicht an
ihr. Vor Allem weil sie vorne herum ganz helfend tut, einfühlsam ist und dann
verwendet sie es gegen dich. Die Wahrheit war für sie kein Segen, sondern eine
Sucht.
Sie kam also ca. sechs Monate nach meiner Diagnose bei uns
zuhause vorbei, sie wolle mit mir sprechen, kündigte sie an. An der Art und
Weise, dieser großmächtigen Ankündigung eines Gespräches unter vier Augen,
dacht ich mir schon ´das wird nicht lustig´. Ihren Sohn hatte Sie bei meinem
Verlobten gelassen und setzte sich mit mir in die Küche.
„Ani, ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Bitte sag mir was
los ist.“
„Ich weiß grad nicht was du meinst.“ Und darauf kam der
typische Satz für so ein Gespräch.
„Du hast dich verändert und ich will wissen, warum.“
„Das ist meine Sache und wenn es etwas gibt, dass ich dir sagen
möchte, dann tu ich es. Versprochen.“ Dann kam der Satz, den ich niemals
vergessen werde.
„Ich habe einen Anspruch darauf, zu erfahren was mit dir
los ist.“
Der Satz hat mich so geplättet und damit hatte sie mich.
Ich dachte wirklich, sie hätte Recht damit. Daraufhin erzählte ich ihr alles,
mit der Bitte um Verschwiegenheit, denn in der Arbeit wusste es nur meine
unmittelbare Vorgesetzte. Das sollte auch erstmal so bleiben.
Ein paar Wochen später oder Tage, ich weiß es ehrlich
gesagt nicht mehr, da telefonierte ich mit ihr bzw. sprach zunächst mit meinem
Schwiegerneffen und damit begann es.
„Ani, stimmt das? Mama hat gesagt du bist krank und wirst
bald sterben.“ So, was sagt man jetzt bitte auf so einen Satz?
„Nein, mein Kleiner, keine Angst. Da hat deine Mama was
falsch verstanden.“ Auch wenn ich niemals in irgendeiner Weise auch nur
annähernd etwas vom Sterben erwähnt habe. „Mach dir keine Sorgen, ich bin noch
lange da. Vielleicht geht’s mir an manchen Tagen nicht so gut, aber damit komm
ich dann schon zurecht.“
Ich war stinksauer auf sie. Was für einen Müll kann eine
Mutter ihrem Kind erzählen? Der Kleine ging damals grad mal in die 1. oder 2.
Klasse und dann spricht sie mit ihm darüber, dass die Tante in Spe krank ist
und bald stirbt. Wobei Letzteres ja wirklich überhaupt gar nicht in der
Stellenbeschreibung einer MS-Kranken enthalten ist.
Aber das Beste kam kurz danach. Meine Arbeit ist ja beinah
gegenüber ihres Frisörsalon. Natürlich gingen dort auch Kolleg(inn)en hin. Da
begab es sich, dass die Größte Oberratschen meiner Arbeit dort war und am
nächsten Tag nahm sie mich bei Seite und fragte: „Wie geht es dir mit der MS?
Tut mir leid für dich.“ Ich hakte natürlich nach, wie sie darauf kommt und dann
erzählte sie mir, wie brühwarm meine tolle Schwägerin die Story in ihrem Salon
breittritt und auf arme betroffene Verwandte macht. Das konnte ich mir nur zu
gut vorstellen, denn das war ja auch der Grund, warum ich ihr eben nichts
erzählen wollte. Aber sie hatte ja einen Anspruch auf die Wahrheit angemeldet.
Nie, niemals wieder werde ich etwas erzählen, wenn ich es
nicht wirklich will und wenn ich es tue, muss ich mir im Klaren darüber sein,
dass alles gegen mich verwendet werden kann. Das kann jeden treffen, drum
behüte deine Wahrheit, das ist dein Recht!
Eins möchte ich jedoch auch sagen. Die Tatsache der
Verdrängung. Sich der Wahrheit zu stellen, ob es die Wahrheit über sich selbst
oder die Beziehung zu anderen ist oder einer Situation, die unausweichlich ist
und Entscheidungen abverlangt. Einfach ist das nicht immer.
Die Wahrheit über mich selbst ist, nicht jeder kommt mit
meiner Art klar. Für die einen ist es belustigend, wenn ich sage woran ich
gerade denke und die anderen bekommen alles ab. Oft muss ich mich wirklich
schwer am Riemen reißen und manchmal kann ich es einfach nicht steuern und mein
Mund schießt wie eine Railgun die Wahrheit geradezu heraus. Wobei die Wahrheit
hier eher subjektiven Eindrücken entspricht oder Unschicklichkeiten, welche ich
nur zu gerne gerade heraus anspreche. Ich muss dazu sagen, ich kann wirklich
gut eine Wahrheit für mich behalten. Wie sagt man so schön: ´Ich kann lügen
ohne rot zu werden`. Deswegen darf es sich jeder aussuchen, ob er mir eine
Frage stellt auf die er eine ehrliche Antwort haben will.