Mittwoch, 10. Oktober 2018

Nur dreißig Sekunden


Seit ich seit vier Wochen keine Tabletten mehr nehme, um meinen Vogel oder vielmehr die Panik im Zaun zu halten, gibt es nun zwar keine Panik mehr, dafür viele Emotionen. Ich habe es vor knapp einer Woche erst so wirklich wahrgenommen und weiß noch gar nicht so recht, wie ich damit umgehen soll. Anfangs war es nur ein Lied, eine Erinnerung an eine Situation, die mir so leidgetan hat.
„See you again“ ein Lied zum Abschied von Vin Diesel für einem treuen Freund und Mitstreiter aus der Filmserie „The Fast and the Furios“ – Paul Walker, ein toller Mann, der einen wirklich unsagbar schlimmen Tod gestorben ist. Beim Abspann seines letzten Films lief dieses Lied. Ich habe Rotz und Wasser geheult als ich ihn damals im Kino gesehen habe. Dann läuft dieser Song auf dem Nachhauseweg von der Arbeit im Radio und ich muss an dieses Gefühl denken, kann mich gar nicht dagegen wehren und weine einfach drauf los. Oder ich höre von einer herzzerreißenden Geschichte und mir steigen die Tränen in die Augen. Selbst wenn ich nur etwas lese, das annähernd Gefühlsduselig ist, löst es in mir sofort wieder Etwas aus. Im Kontrast dazu merke ich seit ein paar Tagen, wie schnell ich mittlerweile auf hundertachtzig bin. Selbst bei Kleinigkeiten könnte ich schier ausrasten, mit Dingen um mich werfen und schimpfen wie ein Rohrspatz (nichts gegen Vögel).

Sensibel war ich nie wirklich, aber ich nehme meine Umgebung schon immer sehr intensiv wahr, auch die Menschen die mich umgeben. Wenn mir Geschichten erzählt werden über Verletzungen, Operation o.Ä. braucht es nicht viel und ich spüre es. Man nennt das Hypersensibilität, hat mir mein Vogeldoktor gesagt. Dass die Tabletten diese Wahrnehmung oder meine eigenen Emotionen irgendwie gedämpft haben, war mir auch klar. Aber soll es wirklich jetzt so sein? Das ist kaum auszuhalten.
Gestern habe ich mich dabei ertappt, wie ich am liebsten laut geschrien und um mich getreten hätte, weil ich – passt genau auf – im Dunkeln einen Stecker nicht in eine Steckdose einbringen konnte, anstatt dass ich mir einfach ein Licht einschalte. Ich musste mich tatsächlich hinsetzen, tief Durchatmen und mir überlegen ´um was geht es jetzt eigentlich´. Das geht nun schon die ganze Woche so, auch in der Arbeit! Ich muss mir dann immer ins Gedächtnis rufen, dass ich nicht alleine bin und jetzt hier keinen Schreikrampf kriegen kann. Aber ich werde tatsächlich direkter, mehr als sonst – so wie es vor langer Zeit einmal war. So bin ich doch eigentlich nicht mehr oder kommt jetzt Ani 2.0 – noch härter, noch verrückter, noch ungenießbarer? Vielleicht aber einfach nur älter, seltsamer und exzentrischer.
Bei Älteren sagt man doch auch, exzentrisch zu sein ist das neue Cool und im Alter auch gern als schrullig einzuordnen. Das wäre ja dann gar nicht so schlimm. Diese ganzen Gefühle überfordern mich teilweise einfach und ich verzweifle fast an dem Gedanken, ob das jetzt wirklich echt ist was ich fühle oder ob es von äußeren Einflüssen ausgelöst wird und ich sie einfach nur wahrnehme, auf mich projiziere. Wenn die erste Reaktion auf so ein Gefühl mein Gegenüber dann mit einem verbalen Dampfhammer trifft, tut es mir nicht unbedingt in der nächsten Sekunde sofort wieder leid. Es dauert mittlerweile um die dreißig Sekunden bis ich tatsächlich überreiß, was gerade passiert.

Ich habe jetzt einige Nächte darüber geschlafen und nachgedacht. Es ist an der Zeit zu reflektieren, wo ich herkomme, wo ich bin und wo ich hinwill. Nicht um der Vergangenheit nach zu trauern, sondern stolz darauf zu sein, was man geschafft hat. Schätzen zu wissen, was man jetzt hat und mit was es gilt umzugehen. Wieder ein Ziel vor Augen zu haben, auf das man hinarbeiten, für das man Leben will. Ein neuer Faktor wird mich nun dabei begleiten, ob ich will oder nicht – ich bin sensibel, mehr als ich vielen Menschen zeige oder zu zeigen vermag – gib mir dreißig Sekunden Leben, um zu reagieren sonst garantiere ich für Nichts. Mal sehen, ob mich das weiter bringt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen